Das widersprüchliche „Argument“ des brotlosen Künstlers

Das widersprüchliche „Argument“ des brotlosen Künstlers

Jeder kennt diese Aussagen:

  • brotloser Künstler/ brotlose Kunst
  • von irgendwas muss man ja leben
  • Kunst ist doch nur ein Hobby
  • von Kunst kann man nicht leben
  • Kunst ist ein Luxus, den man sich leisten können muss

Die Liste könnte man beliebig weiterführen. Es wird jedoch schnell klar, worauf ich abzielen möchte. Ich selbst habe bereits folgende Phasen durchlaufen:

  1. Kunst ist mein Hobby.
  2. Ich kann von meiner Kunst nicht leben.
  3. Ich kann von meiner Kunst leben.

Was aber wirklich hinter („brotloser“) Kunst steht und warum diese Phrasen so widersprüchlich oder schlichtweg dumm sind, möchte ich in den folgenden sechs Teilen kurz anreißen.

Teil 1 – Der brotlose Künstler

Der Begriff Broterwerb wird seit Jahrhunderten stellvertretend für die Fähigkeit der eigenen Lebensunterhaltung durch eine entsprechende Tätigkeit verwendet. Ist man dessen nicht fähig, gilt man als brotlos. Bereits hier wird deutlich, dass die verallgemeinerte Bezeichnung brotlose Kunst beziehungsweise die Kombination aus brotlos und Kunst irreführend ist. Zur Verdeutlichung folgende Fragen:

  1. Frage: Wie viele Künstler fallen dir spontan namentlich ein, welche (vermutlich) nicht nur ihr täglich Brot verdienen, sondern darüber hinaus diverse Häuser, Fahrzeuge, Luxusgüter o.ä., kurz: keine Probleme haben, sich Dinge zu leisten, welche über die reinen Grundbedürfnisse hinausgehen? (Kleiner Tipp: alle Mitglieder von ACDC gehören dazu)
  2. Frage: Wie viele Künstler fallen dir spontan namentlich ein, welche finanziell auf fremde Hilfe angewiesen sind, um sich genug Lebensmittel zu besorgen?
  3. Frage: Wie viele Menschen kennst du persönlich (Bekannte, Verwandte/ Familie), die sich einen ähnlichen Lebensstandard wie die Menschen aus der ersten Frage leisten können?

Nun frage dich in Anbetracht deiner Antworten, wie realistisch die Bezeichnung brotlose Kunst tatsächlich ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und frage dich: Wie realistisch ist es, dass du in deinem Job oder in irgendeinem Job, welchen eine deiner Bekannten, Verwandte oder Freunde ausübt (welcher nicht der Kunst zuzuordnen ist), jemals auf den Lebensstandard jener Menschen aus Frage eins kommst?

Teil 2 – Das erreicht man doch sowieso nicht

Bei dem Verweis auf prominente Vertreter der Kunst kommt sehr oft der Einwand: „Das erreicht man doch sowieso nicht/ Das ist ja was anderes“. Tatsächlich: nein. Prominente Musiker oder Schauspieler sind Menschen wie du und ich. Viele von ihnen haben klein angefangen. Ihr Beispiel zeigt, was möglich ist. Das Problem ist vielmehr, dass die meisten Menschen die Augen vor dem Teil verschließen, welcher mit viel Arbeit, Anstrengung, Entbehrungen und Durchhaltevermögen zu tun hat. Aber genau dieser Teil macht den entscheidenden Unterschied zwischen denen, die gerne erfolgreich wären und jenen, die es sind. Doch es geht mir hierbei nicht darum, ob jeder das erreichen kann, sollte oder will. Es geht hier vielmehr um ein Spektrum, eine Bandbreite. Wenn wir in andere Branchen schauen, fallen uns sehr schnell ähnliche Muster auf, z.B.: der Immobilienmarkt. Dort gibt es (wenngleich oft weniger prominent) viele Unternehmer, welche Millionen Euro Umsatz machen. Doch es gibt auch „kleine“ Hausbesitzer, welche womöglich nur ein Haus besitzen und Probleme haben, alle Kosten zu decken. Kurz: in allen Branchen gibt es eine gewisse Bandbreite von nicht erfolgreich zu sehr erfolgreich. Oft sehen wir nur die Extreme. Doch die entscheidende Masse liegt meist in der Mitte.

Teil 3 – Aber du …

Das absurde „Aber du – Argument“ ist oft der letzte Ausweg der Vertreter der brotlosen Kunst. Sie versuchen damit zu zeigen, dass weil du ja aktuell kein prominenter, erfolgreicher Künstler bist, das ja der Beweis für alles wäre. Spoiler: ist es nicht.

Zum einen hat jeder andere Ambitionen. Nicht jeder will weltbekannt werden. Nicht jeder strebt Platz eins der Charts an und nicht jeder will Millionär werden. Erfolg ist ein sehr persönliches Konzept, welches Jeder für sich selbst definieren sollte. Zum anderen ist Bekanntheit sehr relativ. Als Künstler kann man z.B. in einer bestimmten Szene bekannt sein, in der breiten Öffentlichkeit hingegen recht unbekannt. Unsere Wahrnehmung ist dahingehend sehr beschränkt und subjektiv. Man muss sich nur kurz selbst die Frage stellen: „Wie viele prominente Sänger aus der Pop-Musik kenne ich, wie viele Pianisten aus dem klassischen Bereich oder wie viele Maler usw. Es wird schnell klar, dass sich unsere Interessen und damit unser Wissen und unsere Wahrnehmung für bestimmte Dinge sehr unterscheiden. Vielleicht bin ich an bestimmter Stelle super bekannt und beliebt und du hast noch nie etwas von mir gehört. Ein einziges Beispiel kann nie alleinig stellvertretend für eine gesamte Branche stehen. Das gilt entsprechend nicht nur für prominente Beispiele erfolgreicher Künstler, sondern auch für solche, die von ihrer Kunst nicht leben konnten und womöglich erst posthum Bekanntheit erlangten.

Teil 4 – Die große Rechtfertigungsfalle

Was ich bisher geschrieben habe, ist eigentlich nur Vorgeplänkel – hier kommt die berühmte überraschende Wendung! All' das, was du hier bisher gelesen hast ist ein Blick durch's Schlüsselloch, ein kleiner Ausschnitt des großen Ganzen. Es ist die Falle in welche jene tappen, die nur an der Tür lauschen und meinen, jedes Wort verstanden zu haben. Doch viel zu oft hört und sieht man nur das, was man gerne wissen möchte. Selbst Künstler tappen in diese Falle und rechtfertigen ihre Kunst mit all' dem, was ich weiter oben geschrieben habe.

In Wirklichkeit hat die Kunst für sich mit all' dem überhaupt nichts zu tun. Denn die Kunst ist frei, praktisch ein Alien in unserer Gesellschaft, mancherorts unerkannt, woanders vergöttert und wieder woanders verspottet. Die Kunst ist so anders als alles andere was wir kennen, weil sie nicht primär aus dem praktischen Nutzen entspringt, sondern aus intrinsischer Motivation. Das bedeutet, dass die Kunst bzw. künstlerisches Schaffen keine Rechtfertigung braucht. Die Kunst braucht keinen Zweck, denn sie dient niemandem. Leider schlussfolgern Viele daraus, dass die Kunst nicht notwendig bzw. entbehrlich sei. Das ist ein fataler Trugschluss. Denn wenngleich die Kunst aus biologischer Sicht nicht überlebenswichtig ist, so können wir ohne sie trotzdem nicht überleben. Denn das Einzige, was uns wirklich fundamental von allen uns bisher bekannten Lebensformen unterscheidet, ist (einfach gesagt) die Fähigkeit der Reflexion unserer eigenen Sterblichkeit. Die Kunst ist hierbei das Einzige, was uns in Anbetracht dieser Erkenntnis helfen kann.

Die Kunst ist gewissermaßen das Wasser gegen das Feuer, das Boot inmitten des Ozeans oder das Licht im Tunnel. Mir ist klar, dass man eine Weile braucht, um das wirklich zu erfassen und zu verstehen – aber der Aufwand lohnt sich!

Bis dahin, lass' es mich ein wenig herunter brechen.

Teil 5 – Die Feuerwehr Metapher

Stell' dir vor, du wohnst in einer Wohnung an einer Straße. Über diese Straße fährt regelmäßig eine Feuerwehr mit Blaulicht, Sirene und hohem Tempo. Du weißt aber nicht, wohin diese Feuerwehr fährt und was ihre Funktion ist. Alles was du weißt ist, dass sie verdammt laut ist, viel zu schnell fährt und nachts dein ganzes Zimmer blau erleuchtet und das nervt! Was soll das also alles mit dieser Feuerwehr? Dieser Lärm ist doch völlig sinnlos und bringt niemandem irgendwas. Außerdem ist es gefährlich, mit so einem LKW so schnell über die Straße zu rasen.

Was du jedoch nicht weißt ist, dass diese Feuerwehr anderswo vielleicht einen Brand löscht und Menschenleben rettet.

Stell' dir vor, diese Feuerwehr ist ein Straßenmusiker, der an deiner Straße Musik macht (für dich natürlich viel zu laut etc.). Was du jedoch nicht weißt ist, dass vielleicht jemand anderes nach einem schweren Schicksalsschlag diesem Musiker zuhört und durch seine Musik neue Hoffnung und Kraft gewinnt um weiter zu leben.

Teil 6 – Rückgrat der Gesellschaft

Genau in solchen Dingen liegt die Bedeutung der Kunst, sei es Menschen über persönliche Krisen zu helfen, neue Perspektiven zu eröffnen, gesellschaftlichen Wandel anzustoßen oder einfach nur das Schöne, die Freude und Zuversicht zu feiern. Kunst (und damit Kultur als Ganzes) ist der Kitt der Gesellschaft, besser noch: Das Rückgrat der Gesellschaft. Sie gibt uns Hoffnung, wo keine Psychologen mehr helfen können; sie zeigt uns Wege, wo Politik versagt; sie kann uns Trost spenden, wenn keine Medizin mehr wirkt; sie verbindet uns, wenn alles andere auseinanderfällt. Und nein, Kunst macht uns nicht satt, wenn wir hungrig sind. Aber sie gibt uns ein Sinn darin, überhaupt erst ins Brot zu beißen.

Leider ist Kunst nicht nur unser Rückgrat, sondern wird oft auch so behandelt. Die meisten Menschen geben auf ihren Körper, insbesondere den Rücken, zu wenig Acht. Trotz Höchstleistungen sehen wir ihn als selbstverständlich, missachten Rückenschmerzen bis es nicht mehr geht und investieren viel zu wenig in das, was uns aufrecht gehen lässt und uns unsere tägliche Arbeit ermöglicht.

Ähnlich ist es mit der Kunst. Der Ausdruck „brotloser Künstler“ (sowie ähnliche Phrasen) ist lediglich ein Zeichen von Ignoranz, Respektlosigkeit und fehlender Reife als Mensch. Wie heißt es so schön in einem bekannten Mem: „You are the result of 4 billion years of evolutionary success – fucking act like it!“ („Du bist das Ergebnis von 4 Milliarden Jahren Evolution – verdammt nochmal verhalte dich entsprechend!“)..

Dieses Thema interessiert dich? Dann kann ich dir nur wärmstens empfehlen, den Blogartikel meiner Partnerin anzuschauen, welche das gleiche Thema aus einer anderen Perspektive beleuchtet hat: Umgang mit dem “brotlosen Künstler”

Cheers!

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